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Schnittige Typen
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Die Geometrie ist vor der Erschaffung der
Dinge, gleich ewig wie der Geist Gottes selbst
und hat in ihm die Urbilder für die Erschaffung
der Welt geliefert.
Johannes Kepler (Harmonices Mundi,
1619)
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Die Geschichte des Goldenen Schnittes ist schon
sehr alt. So alt, dass es nicht mal eine einstimmige
Meinung darüber gibt, auf wen er denn nun
eigentlich zurückzuführen ist. Ich denke,
auch wenn Euklid der erste war, der seine Studien
um den Goldenen Schnitt ausführlich niederschrieb
und erläuterte, gebührt der Ruhm des
Entdeckers aber doch dem ca. 100 Jahre vor ihm
gelebten Hippasos von Metapont. Dieser Mathematiker
gab für den Goldenen Schnitt nicht nur seine
eigene Weltanschauung auf, der Legende nach wurde
er dafür sogar von seinen Kollegen aus dem
Pythagoräischen Bund öffentlich ermordet.
Aber neben Hipassos haben sich noch viele andere
mehr oder weniger berühmte Leute mit dem
Goldenen Schnitt beschäftigt. Die folgende
Aufzählung hat mit Sicherheit keinen Anspruch
auf Vollständigkeit. Dennoch habe ich versucht
mal die wichtigsten Personen um den Goldenen Schnitt
chronologisch aufzulisten. Here they are!
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Hippasos von
Metapont lebte um 450 v.Chr. Er war ein Mitglied
der "Pythagoräer", eines Wissensbundes,
der der absoluten Überzeugung war, dass die
Welt sich vollständig durch ganze Zahlen
beschreiben lassen müsse. Ihr Begründer
war, wie man sich denken kann, Pythagoras, der
bereits 120 Jahre zuvor Gesetze in der Geometrie
ausgemacht hatte, die bis heute unser mathematisches
Leben bestimmen, wie z.B die Längenverhältnisse
in rechtwinkligen Dreiecken. Aber zurück
zu Hipassos. Wie Pythagoras glaubte auch er, dass
die Struktur der Welt sich auf rationale Zahlen
und deren Verhältnisse gründen müsse.
Schon Pythagoras entdeckte, dass sich genau der
gleiche Ton eine Oktave höher ergibt, wenn
eine Saite im Verhältnis 1:1 geteilt wird.
Durch andere ganzzahlige Teilverhältnisse
lassen sich beliebige Tonintervalle erzeugen,
wie sie noch heute in den Dur- und Moll-Tonleitern
üblich sind.
Das Pentagramm, ein fünfzackiger Stern, der
in einem gleichseitigen Fünfeck eingeschlossen
ist, war seit jeher das Erkennungszeichen des
pythagoräischen Bundes und stand ursprünglich
für die Suche nach der universalen Wahrheit.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass
Hipassos ausgerechnet in diesem Pentagramm die
Widerlegung der Ansicht der Pythagoräer fand.
Er entdeckte, dass sich die Diagonalen in einer
ganz besonderen Art und Weise schneiden. Der Teilpunkt
liegt so, dass sich die größere Teilstrecke
zur kleineren so verhält wie die Gesamtstrecke
zum größeren Teil.
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Hipassos
fragte sich natürlich, ob es möglich
sei, das Verhältnis von Diagonale zur Seitenlänge
des Pentagramms mit Zahlen exakt zu bestimmen.
Nun bilden allerdings die Schenkel des Sterns
im Innern ein neues, kleineres Fünfeck, in
das sich wieder ein Pentagramm-Stern zeichnen
lässt - und so fort. In der Geometrie werden
solche unendlich wiederkehrenden Muster "Fraktale"
genannt. In einem Pentagramm besteht zugleich
eine feste, berechenbare Beziehung zwischen den
Strecken in der größeren Figur und
jenen der kleineren. Wären Seite und Diagonale
des kleinen Pentagramms zum Beispiel 34 und 55
Millimeter lang, ergäbe sich aus der Summe
dieser Werte (34+55) die Seitenlänge des
größeren (89). Die Diagonalenlänge
der größeren Figur (144) errechnete
sich ihrerseits aus 55+89.
Jetzt hatte Hipassos ein Problem: Die Verhältnisse
von beispielsweise 144:89 und 55:34 sind sich
im Zahlenwert zwar durchaus ähnlich (jeweils
ungefähr 1,618), sie sind aber nie identisch,
obwohl natürlich in jedem Pentagramm dieselben
Beziehungen gelten sollten. Hippasos folgerte
daraus, dass ein für alle Pentagramme gültiges,
exakt berechenbares Zahlenverhältnis nie
gefunden werden kann. Hiermit war seiner Hoffnung
auf eine präzise Erfassung der Welt in Zahlenverhältnissen
der Boden entzogen. Seine Kollegen aus dem Pythagoräer-Bund
fanden, dass Hipassos mit seiner Entdeckung den
Bogen eindeutig überspannt hatte, so dass
sie den Ketzer der Legende nach öffentlich
im Meer ertränkt haben sollen.
Heute ist die Entdeckung des Hipassos in der Mathematik
höchst anerkannt. Der Verhältniswert
=1,618 hatte Hipassos und seine Rechen-Brüder
damals fast wahnsinnig gemacht – heute kennen
wir ihn als Phi. Eine irrationale Zahl mit unendlich
vielen Nachkommastellen, die sich nicht wiederholen.
Diese Zahl ist zwar unendlich, aber dennoch für
jeden Fall exakt berechenbar.
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Auf seiner
Suche nach einfachen Möglichkeiten, um Netze
Platonischer Körper zu konstruieren, fand
Euklid in älteren Schriften, Hipassos’
Wissen wieder, dass im regulären Fünfeck
ein erstaunliches Streckenverhältnis vorliegt.
Euklid war der erste, der es nach ausgiebiger
analytischer Auseinandersetzung in seinem II.
Buch der "Elemente" in Satz 11, mit
"proportio habens medium et duo extrema",
heute übersetzt als "Teilung im inneren
und äußeren Verhältnis" erklärte
und zusammen fasste.
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Leonardo Fibonacci de Pisa (1180-1250) |
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Leonardo Fibonacci war der
Sohn eines Kaufmanns aus Pisa, der mit arabischen
Ländern in Nordafrika Handel trieb. Sein
Vater war der Leiter der pisanischen Handelskolonie
in Bugia im heutigen Algerien. Dadurch hatte Fibonacci
muslimische Lehrer und reiste u. a. nach Ägypten,
Syrien und Griechenland. Ca. 200 Jahre bevor sich
das Dezimalsystem in Europa durchgesetzt hatte,
studierte er die hindu-arabischen Ziffern, unsere
heutigen “arabischen Zahlen“ und die
von arabischen Mathematikern entwickelten Rechenmethoden.
1202 entstand sein wichtigstes Werk, der “Liber
abaci“, ein enzyklopädisches Rechenbuch,
das der westlichen Welt die arithmetischen Rechenmethoden
auf der Basis des indisch-arabischen Stellenwertsystems
vermittelte. Mit diesem Werk führte Fibonacci
die Zahl 0 im Abendland ein. Fibonacci war Mathematiker
am Hof Kaisers Friedrich II und verfasste zahlreiche
geometrische und zahlentheoretische Schriften,
die seiner Zeit oft weit voraus waren. Seine wohl
folgenreichste Leistung war die umfassende Darstellung
und Erläuterung des Rechnens mit den damals
noch nicht gebräuchlichen indisch-arabischen
Ziffern. Für viele gilt Leonardo Pisano als
der bedeutendste Mathematiker des Mittelalters.
Er entdeckte den gesetzmäßigen Ablauf
des Wuchsverhaltens von Pflanzen und dass dieses
Zahlenkonzept auch in allen anderen biologischen
Bereichen wieder zu finden ist. Dieses Konzept
ist heute in der ganzen Welt als Fibonacci-Reihe
bekannt. Beginnend bei 0, wird sie errechnet,
indem man immer die letzten zwei Zahlen addiert,
um die nächste Zahl der Reihe zu erhalten:
0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89,...
(1 + 1 = 2, 1 + 2 = 3, 2 + 3 = 5, 3 + 5 = 8, 5
+ 8 = 13...)
Wenn man innerhalb der Fibonacci-Reihe eine Zahl
durch die vorhergehende Zahl dividiert, erhält
man einen Wert, der der transzendenten Zahl Phi
(0,6180339...) umso näher kommt, je höher
die Zahlenwerte aus der Fibonacci-Reihe sind:
1 geteilt durch 1 = 1
2 geteilt durch 1 = 2
3 geteilt durch 2 = 1,5
5 geteilt durch 3 = 1,66
8 geteilt durch 5 = 1,60
13 geteilt durch 8 = 1,625
21 geteilt durch 13 = 1,615
34 geteilt durch 21 = 1,619
55 geteilt durch 34 = 1,617
89 geteilt durch 55 = 1,6181
Die Ergebnisse nähern sich Phi immer weiter
an, bis ein Unterschied fast nicht mehr nachvollziehbar
ist.
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Luca Pacioli (1445-1514) |
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Luca Pacioli di Borgo San
Sepolcro war Mönch. Er entdeckte die Werke
von Euklid wieder und lehrte sie. Er erkannte,
dass die Streckenteilung der gleichen inneren
und äußeren Teilung elementar für
die Konstruktion der Netze Platonischer Körper
war. Er nannte sie die “Divina Proportione“
- Göttliche Teilung. Göttlich, so sagte
er, weil sie einzigartig sei und ihr Wesen mit
nichts anderem verglichen werden könne -
darin sei sie wie Gott. Auch sein großes
Werk, in dem er sich mit Euklid und seinen Lehren
auseinander setzte, trägt diesen Namen. Für
dieses Buch schuf Leonardo da Vinci (1471-1528)
60 Illustrationen. Auch die berühmte Zeichnung
über die Quadratur des Kreises wird auf die
Arbeit an der “Divina Proportione“
zurückgeführt. Die Idee zu dieser Skizze
stammt allerdings weder von Leonardo, noch von
Pacioli, sondern von dem römischen Architekten
Marcus Vitruvius Pollio, der bereits 84 v.Chr.
geboren wurde.
Nebenbei: Pacioli hat sich die Doppelte Buchführung
ausgedacht und ist somit der Erfinder des modernen
Rechnungswesens in Unternehmen.
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Johannes Kepler (1571-1630) |
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Johannes Kepler war der erste
Autor, der nicht nur die mathematische Beziehung
zwischen dem Goldenen Schnitt und der Fibonacci-Folge
erkannte, sondern beide auch mit Elementen der
belebten Natur verband.
In der theoretischen Himmelsmechanik spielt der
Goldene Schnitt und damit die Zahl Phi=1,61803399...
eine gewisse Rolle. Sie ist die am schlechtesten
durch einen Bruch anzunähernde irrationale
Zahl und weit widerspenstiger als PI=3,14159...
Wie schon Luca Pacioli und sein Mitstreiter Leonardo
da Vinci zeigten, stößt man überall
bei der Morphologie der Lebewesen, ihrem Wachstum,
ihren Bewegungen und ihrer inneren Struktur auf
die geometrischen Beziehungen des Goldenen Schnitts.
Dagegen kommt der Goldene Schnitt in unbelebten
Prozessen gewöhnlich nicht vor, zumindest
nicht auf der Ebene der sichtbaren Körper
auf der Erde.
In diesem Rahmen gelang es Johannes Kepler, die
Anomalien der Planetenbewegungen aufzuklären.
Damit setzte er eine Revolution in Physik und
Mathematik in Gang. Indem er zeigte, dass der
Mars keine kreisförmige, sondern eine nahezu
elliptische Bahn verfolgt, schuf Kepler ein Paradox.
Wenn die Bahn eines Planeten nicht kreisförmig
ist und damit keine einfache mathematische Funktion
hat, sondern sich in jedem beliebig kleinen Intervall
auf nichtlineare Weise ändert, woher weiß
dann der Planet, wie er sich bewegen soll? Die
Umlaufbahn und die Umlaufgeschwindigkeit müssen
die Wirkung eines Prinzips ausdrücken, das
nicht einer genauen mathematischen Zahl oder Funktion
entspricht, aber dennoch eine eindeutige Existenz
aufweist. Das nannte Kepler den "Geist des
Planeten“.
Nur nebenbei bemerkt begründete Kepler in
seinem Aufsatz über die "Schneeflocke"
die Methode der Kristallographie, die der experimentellen
Wissenschaft erstmals die Möglichkeit eröffnete,
vom makroskopischen in den mikroskopischen Bereich
als Grundlage für morphologische Unterscheidungen
lebender und nicht lebender Prozesse auf makroskopischer
Ebene einzudringen. Diese Methode benutzte Mendelejew
später zur Ableitung des Periodensystems
der chemischen Elemente.
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Phidias (490-430 v.Chr.) |
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Um das berühmte Verhältnis
des Goldenen Schnitts 1:1,618… auszudrücken
benutzen wir die Bezeichnung Phi. Man nimmt an,
dass dies von der Verherrlichung der Griechischen
Leistungen im Allgemeinen her rührt. Phi
kommt hierbei von Phidias, dem griechischen Bildhauer
und Architekten, unter dessen Leitung der Parthenon-Tempel
in Athen gebaut wurde. In seiner Ruine finden
sich vielfache Hinweise und Abmessungen des Goldenen
Schnittes.
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Martin Ohm (1792-1872) |
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Der Begriff "Goldener
Schnitt" als solcher taucht zum ersten Mal
1835 in Martin Ohm’s zweiter Auflage seines
mehrbändigen Werks "Die reine Elementar-Mathematik,
weniger abstrakt, sondern mehr anschaulich"
auf. Ab jetzt hat die über so viele Jahrhunderte
von so vielen klugen Denkern verehrte und von
Pacioli göttlich genannte Streckenteilung
endlich einen Namen.
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Schnittige Typen |
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